Am Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik e. V. (DIL) wird seit einigen Jahren daran geforscht, wie Proteine aus Gras unmittelbar für die menschliche Ernährung zugänglich gemacht werden können. Ein besonderer Forschungsgegenstand ist das Grasprotein RuBisCO, das auf der Welt am häufigsten vorkommende Protein. Mit diesem Forschungsbereich möchte das DIL die nachhaltige Transformation des Ernährungssystems vorantreiben.
Dr. Andreas Juadjur und Dr. Kemal Aganovic betreuen das Grasland-Projekt am DIL. Im Interview sprechen sie mit uns über das innovative Verfahren, wie aus Gras Proteine für die menschliche Ernährung gewonnen werden und welche Chancen und Herausforderungen sich hier für die Landwirtschaft ergeben.
Herr Juadjur und Herr Aganovic, Proteingewinnung für die menschliche Ernährung aus Gras, wie geht das?
Die Zellwandbestandteile von Gras, wie Cellulose, Hemicellulose und Lignin, sind für den menschlichen Verdauungstrakt nicht abbaubar, sodass die enthaltenen Proteine für den menschlichen Organismus nicht zugänglich sind. Mittels technischer Prozesse, die heutzutage verfügbar sind, ist es möglich, diese Proteine aus dem Grasgewebe zu extrahieren und für die menschliche oder tierische Ernährung zu nutzen.
Die Proteingewinnung aus Gras erfolgt durch einen mehrstufigen Prozess, der zuerst das Gras mechanisch aufschließt. Anschließend wird das Gras in Saft und Presskuchen gepresst. Mit Verfahren wie pH-Anpassung, Temperaturbehandlung und Zentrifugation wird das Protein aus dem frisch gepressten Grassaft extrahiert und gereinigt. Ein standardisierter Laborprozess zur Proteinextraktion ist bereits entwickelt und wird derzeit hinsichtlich der verschiedenen Grünlandpflanzen, der Ausbeute und Stabilität der Proteine optimiert. Zukünftige Schritte umfassen die Übertragung des Verfahrens in einen größeren Maßstab, um die Produktion zu steigern und industrielle Anwendungen vorzubereiten.

Wieviel Protein lässt sich aus Gras gewinnen und wie kann der Rest des Grases verwertet werden?
Aktuell kann bei Weidelgras eine Proteinausbeute von etwa 25 % des enthaltenen Proteins erreicht werden, wobei weitere Optimierungen geplant sind, um diesen Wert zu steigern. Strukturproteine, die größtenteils in den Zellwänden und Fasern verankert sind, gehen nicht in den Saft über und sind daher nicht das Ziel des Extraktionsprozesses. Stattdessen konzentriert sich die Extraktion auf RuBisCO, ein Enzym, das an der Photosynthese beteiligt ist und für seine ausgewogene Aminosäurezusammensetzung sowie seine technofunktionellen Eigenschaften wie Emulgierfähigkeit und Schaumstabilität bekannt ist. Diese Eigenschaften machen RuBisCO zu einer idealen Zutat für pflanzliche Fleisch- und Käsealternativen sowie für Backwaren und andere Lebensmittelprodukte.
Der Rest des Grases wird ebenfalls sinnvoll verwertet. Die faserreichen Rückstände können als Futtermittel oder als Rohstoff für die Biogasproduktion genutzt werden. Somit wird das gesamte Pflanzenmaterial in einem möglichst ressourcenschonenden Prozess verwendet, was dem Ansatz einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft entspricht. Weiterhin kann aus dem Presskuchen durch den Prozess der Pyrolyse Pflanzenkohle hergestellt werden, die wiederum als CO₂-Speicher genutzt werden kann.

Welche Produkte lassen sich mit Protein aus Gras herstellen?
Mit dem aus Gras gewonnenen Protein können verschiedene Lebensmittel hergestellt werden, insbesondere solche, die technofunktionelle Eigenschaften wie Gelierung, Emulgierfähigkeit und Schaumstabilität nutzen. Zu den möglichen Produkten gehören pflanzliche Fleisch-, Milch- und Käsealternativen, aber auch Lebensmittel wie Nudeln, Backwaren oder Proteinriegel. Das Grasprotein kann in der Rezeptur so angepasst werden, dass es die gewünschte Textur und Funktionalität für eine Vielzahl von Anwendungen erfüllt.
Ein besonders spannendes Anwendungsgebiet ist der Ersatz von Methylcellulose, die häufig als Strukturgeber in pflanzlichen Produkten verwendet wird. Das Grasprotein, insbesondere RuBisCO, kann durch seine gelfähigen Eigenschaften in bestimmten Produkten zur Strukturgebung beitragen und so als natürliche Alternative dienen. Dies könnte nicht nur dazu beitragen, den Verarbeitungsgrad der Produkte zu verringern, sondern möglicherweise auch gesundheitliche Vorteile bieten. Methylcellulose wird in einigen Studien mit negativen Auswirkungen auf die Darmgesundheit in Verbindung gebracht, während ein Umstieg auf natürliche Proteine wie RuBisCO eine schonendere Alternative darstellen könnte.
Damit könnten in pflanzlichen Fleischalternativen oder Käseprodukten texturgebende Zutaten reduziert oder vollständig ersetzt werden, um die Produkte noch natürlicher zu gestalten und gleichzeitig potenziell positive Effekte auf die Darmgesundheit zu fördern. Solche Anwendungen bieten ein großes Potenzial für die Entwicklung innovativer und nachhaltiger Lebensmittelprodukte auf Basis von Grasprotein.

In Butjadingen an der Nordsee läuft eine Kooperation des DIL mit einem Landwirt. Was genau beinhaltet die Kooperation und gibt es bereits belastbare Ergebnisse?
Die Kooperation mit dem Landwirt in Butjadingen zielt darauf ab, das Potenzial von Grünlandpflanzen in Küstenregionen für die nachhaltige Proteingewinnung zu erschließen. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung des Landwirts, der das Ausgangsmaterial – das Gras und auch eine Presse im Großmaßstab – bereitstellt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Prozesses leistet. Langfristig planen wir, den Prozess der Proteingewinnung direkt beim Landwirt vor Ort zu etablieren. So könnten Landwirte ihr eigenes Gras zur Proteingewinnung nutzen und gleichzeitig die anfallenden Nebenströme zur Biogasproduktion oder als Tierfutter verwerten.
Da sich das Projekt aktuell noch in der Optimierungsphase befindet, gibt es bisher vielversprechende, jedoch keine marktreifen Ergebnisse. Die Zusammenarbeit trägt jedoch maßgeblich zur Anpassung des Prozesses an unterschiedliche Arten von Grünlandpflanzen bei und ermöglicht es, ein Verfahren zu entwickeln, das direkt auf den Höfen implementiert werden könnte. So können Landwirte nicht nur von neuen Einkommensquellen profitieren, sondern auch nachhaltige Lösungen für die vollständige Nutzung ihrer Grünlandpflanzen realisieren.

Wann ist mit der Marktreife von „veganem Fleisch und Käse aus Gras“ zu rechnen?
Derzeit wird intensiv an der Prozessoptimierung gearbeitet, um die Proteinfraktionen zu stabilisieren und in marktfähige Produkte umzuwandeln. Die Überführung des Verfahrens in den Technikumsmaßstab und die Durchführung einer umfassenden Life Cycle Assessment-Studie sind für das kommende Jahr geplant. Nach der erfolgreichen Skalierung müssen die Produkte jedoch vollständig charakterisiert und den Anforderungen der Novel-Food-Zulassung unterzogen werden, bevor sie auf den Markt gebracht werden können.
Bereits jetzt arbeiten wir jedoch an der Charakterisierung der technofunktionellen Eigenschaften des extrahierten Proteins und testen erste Produktformulierungen, um mögliche Anwendungen wie vegane Fleisch- und Käsealternativen weiterzuentwickeln. Wenn der Prozess erfolgreich skaliert und alle regulatorischen Vorgaben erfüllt werden, könnte eine Marktreife für die ersten Produkte in drei bis vier Jahren realistisch sein.
Ist Protein aus Gras für Bauern eine echte Einkommensperspektive?
Ja, die Proteingewinnung aus Gras bietet Landwirten in Grünlandregionen eine vielversprechende Möglichkeit, neue Einkommensquellen zu erschließen. Die Nachfrage nach pflanzlichen Proteinquellen wächst weltweit und Grasprotein könnte sich zu einem lukrativen Produkt entwickeln, wenn es nachhaltig und effizient verwertet wird. Neben der direkten Nutzung als Proteinquelle für die menschliche Ernährung kann der verbleibende Pflanzenrest weiterhin als Futtermittel, CO₂-Speicher oder für die Biogasproduktion genutzt werden, was zusätzliche Einnahmequellen schafft.
Diese Mehrfachverwertung steigert die Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit des gesamten Prozesses. Im Rahmen unseres Projekts wird der Prozess nicht nur hinsichtlich der Proteinausbeute, sondern auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit optimiert. Zudem streben wir an, dass Landwirte durch CO₂-Zertifikate profitieren können. Da die Nutzung von Grünland zur Proteingewinnung und Biogasproduktion potenziell einen positiven Beitrag zur CO₂-Bilanz leistet, könnten CO₂-Zertifikate eine weitere Einnahmequelle darstellen. Ziel ist es, das Gras sowie alle Nebenströme vollständig zu nutzen, sodass Landwirte von einem geschlossenen und ressourcenschonenden Kreislauf profitieren und gleichzeitig durch CO₂-Zertifikate zusätzlich wirtschaftliche Vorteile erzielen.
Herr Juadjur und Herr Aganovic, wir bedanken uns für das Gespräch.
Weitere Informationen: dil-ev.de