Kultiviertes Fleisch

Ein Gastbeitrag von Philipp Wolf

Next Gen Plant-based: Wie eine neue Generation pflanzlicher Produkte die Vision vom Laborfleisch ausbremst

London im August 2013: Der Journalist Josh Schonwald, die Ernährungsforscherin Hanni Rützler und Mark Post, Professor an der Maastricht University, verkosten vor 200 Journalisten und geladenen Gästen den weltweit ersten Burger aus kultiviertem Rindfleisch. Schon 2004 hatten drei niederländische Universitäten an dem geforscht, was in diesem großen PR-Spektakel vorgestellt wurde – und einst die Welt verändern sollte. Vor mehr als zehn Jahren begann damit das Wettrennen um eine Revolution, die heute, trotz immenser Finanzierungen, noch immer mit Skalierung, Regulierung und Marktreife ringt. Jahre, in denen andere Unternehmen neue pflanzliche Alternativen entwickelt haben, die ihren tierischen Vorbildern in immer mehr Aspekten ähneln – und mit ihrer wachsenden Qualität die Vision vom „echten“ Fleisch aus dem Labor zunehmend infrage stellen. Die Revolution wurde von der Evolution eingeholt.

Doch blicken wir einen Schritt zurück. Am Anfang stand ein ökologischer und ethischer Tiefpunkt: die Massentierhaltung. Wann genau sie begann, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Vermutlich war es in den 1950er-Jahren, als Fleisch einen Boom erlebte. In Deutschland stieg der Pro-Kopf-Verzehr von rund 37 Kilogramm (1950) auf über 100 Kilogramm im Jahr 1980. Das Tier verlor seinen Status als Lebewesen, wurde zum Bestand, der immer größer bewirtschaftet wurde. Kritik daran blieb lange aus. Selbst die Friedens- und Ökologiebewegung der 1970er-Jahre nahm das Thema kaum wahr. Erstmals tauchte der Begriff „Massentierhaltung“ in Deutschland 1975 auf – in der „Verordnung zum Schutz gegen die Gefährdung durch Viehseuchen bei der Haltung von Schweinebeständen“.

Diese neue Wahrnehmung führte zu einer ersten Bewegung, die man heute als eine Art Clean-Label-Vegetarismus bezeichnen könnte: pflanzliche Alternativen wie Tofu, Seitan und Tempeh, die zwar kaum etwas mit Fleisch gemein hatten, aber zunehmend als Ersatz in klassischen Gerichten eingesetzt wurden. 

Um die Jahrtausendwende nahm die Zahl der Vegetarier spürbar zu, wenn auch zunächst auf niedrigem Niveau. 2008 waren es rund 1,6 Prozent in Deutschland, heute verzichten bereits über sechs Prozent auf Fleisch und knapp ein Prozent vollständig auf tierische Produkte.

Ab 2010 hielten Fleischersatzprodukte Einzug in die Supermärkte – und diesmal sahen sie tatsächlich nach Fleisch aus. Das berüchtigte Soja-Schnitzel wurde zum Symbol dieser neuen Welle. Marken wie LikeMeat (heute „Like“) und Veganz schoben die Nachfrage an, angetrieben von einer immer größeren Produktvielfalt. Spätestens als die Rügenwalder Mühle ankündigte, bis 2020 dreißig Prozent ihres Umsatzes mit vegetarischen Produkten zu erzielen – und dieses Ziel schon 2016 erreichte –, war klar: Das hier war keine Randerscheinung, sondern ein Paradigmenwechsel.

Doch die neue Generation hatte ihre Schattenseiten. Viele Produkte waren mit Zusatzstoffen vollgestopft. Und geschmacklich? Ernüchterung. Schnitzel, Burger, Würste – sie wirkten oft getreidig, trocken und irgendwie leblos. Fleischimitationen, die aussahen wie das Original, aber nicht danach schmeckten.

Fast zeitgleich – mit etwas Anlauf – wagten zwei kalifornische Unternehmen den nächsten Schritt. Beyond Meat (2009 gegründet) und Impossible Foods (2011) wollten pflanzliches Fleisch entwickeln, das dem Original so nahekommt wie möglich. Der Beyond Burger, auf Erbsenprotein basierend, kam 2013 auf den US-Markt, der Impossible Burger 2016. Plötzlich war pflanzliches Fleisch nicht mehr nur Ersatz – sondern echte Konkurrenz.

Doch kurz darauf der Absturz. Sinkende Nachfrage, schwindende Finanzierungen, dazu der wachsende Hype um kultiviertes Fleisch. Warum in Pflanzen investieren, wenn bald echtes Fleisch aus der Petrischale kommt? Erste Zulassungen in Singapur und den USA nährten genau diese Hoffnung – und ließen viele in der Branche resignieren.

Doch auf das Tief folgt das Hoch. Die Ernüchterung über die langsame Entwicklung von Laborfleisch und die stetig steigende Qualität pflanzlicher Produkte haben der Kategorie neuen Schub gegeben. Der Handel setzt mit Eigenmarken zunehmend auf Plant-based – und bietet Preise, die inzwischen mit den günstigen tierischen Originalen mithalten können.

Gleichzeitig formiert sich eine neue Generation pflanzlicher Alternativen. In Berlin entwickelt Project Eaden Fleisch mit einer Technologie aus der Textilindustrie: dem Faserspinnen. Pflanzliche Proteine werden zu hauchdünnen, essbaren Fasern verarbeitet, die auf Spulen wie Muskelfasern gebündelt und mit pflanzlichen Fetten marmoriert werden. Das Ergebnis: ein Imitat, das so aussieht wie Fleisch – und sich auch so anfühlt.

Auch internationale Player drängen auf den Markt: Juicy Marbles und Redefine Meat bringen Whole Cuts in die Regale, also ganze Stücke statt nur Burgerpatties. Und aus der Schweiz meldet sich Planted, mit dem klaren Anspruch, die Führungsrolle in einer Kategorie zu übernehmen, die ihr Potenzial längst nicht ausgeschöpft hat.

Fleisch- und Milchersatzprodukte stehen heute an einem entscheidenden Punkt. Sie befinden sich im Übergang von den Early Adopters zur Early Majority. Die Penetration ist signifikant – doch die breite Masse ist noch nicht überzeugt. Preisparität, bessere Qualität und eine größere Vielfalt sind die Schlüssel, um diese Hürde zu überwinden und auch die Late Majority zu erreichen.

Gelingt dieser Schritt, verschiebt sich die Relevanz von kultiviertem Fleisch um Jahre, vielleicht Jahrzehnte. Denn Konsumenten werden nicht auf eine ferne Vision warten, wenn sie schon heute eine überzeugende, verfügbare und bezahlbare Alternative im Regal finden.

Die Zukunft entscheidet sich nicht im Labor – sondern am Supermarktregal.

Unser Gastautor Philipp Wolf ist neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit im Private Label Marketing der REWE auch Gründer und Betreiber von swyytr.com, einem digitalen Food Hub, der relevante Themen des Lebensmittelsektors unter einem Dach vereint und in Form mehrerer Newsletter wöchentlich über Neuigkeiten und Trends berichtet.

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