Edith Gätjen berät Ernährungsfachkräfte und Unternehmen hinsichtlich veganer Ernährung für Kleinkinder und Jugendliche. Zusammen mit dem Gießener Forscher Dr. Markus Keller ist sie Autorin zweier Bücher für pflanzliche Ernährung in Schwangerschaft und Stillzeit sowie Baby- und Kinderernährung. Wir haben uns mit der Kölnerin ausgetauscht, um mehr über die Bedarfe und Potenziale in der pflanzenbasierten Lebensmittelproduktion zu erfahren.
Frau Gätjen, kürzlich wurde über neue Produkte im Bereich der veganen Kleinkindnahrung berichtet. Die Zahl der Anbieter ist aber noch sehr überschaubar. Sehen Sie eine Trendwende im gesellschaftlichen Bewusstsein? Eine Öffnung gegenüber veganen Angeboten auch für Babys und Kleinkinder?
Seit Langem existieren zahlreiche Beispiele an Gläschenkost, die per se vegan sind, beispielsweise rein aus Obst, Obstgetreidebreie, oder auch Gemüse mit Kartoffeln oder Gemüse mit Nudeln. Zudem sind Instant-Breie im Angebot, die ausschließlich Getreide enthalten, und diese lassen sich mit einem Pflanzendrink oder mit einer sojabasierten Formularnahrung anrühren. Mit dem jetzigen Angebot lässt sich eine vegane Kinderernährung umsetzen.
Zahlreiche Unternehmen arbeiten an der Entwicklung von Gläschenkost, und sehr viele Eltern wünschen sich, dass alles in einem Produkt zur Verfügung steht und der Proteingehalt sichergestellt ist. Wünschenswert ist eine Kombination aus Gemüse, Kartoffeln, Hülsenfrüchten wie Linse oder Kichererbse oder – als Alternative für die Proteinversorgung – Tofu. Diese Zutaten sind mit einem nährstoffreichen hochwertigen Öl und mit einer Messerspitze Nori-Algen für die Sicherstellung der Jodversorgung zu verbinden. All dies muss durchdacht werden, um zu einem fertigen veganen Mittagsmenü zu gelangen, welches den Eltern die Sicherheit bringt, dass ihr Kind mit diesem Produkt gut versorgt ist. Statt Gemüse, Kartoffeln und Lachs oder Gemüse, Kartoffeln und Rindfleisch soll es eine vollwertige Alternative geben. Die Schwierigkeit besteht seit jeher darin, ein Produkt so herzustellen, dass es erhitzt werden kann und die Nährstoffe weiterhin erhalten bleiben.
Ist es vor diesem Hintergrund zu leisten, eine vegane Beikost auf den Markt zu bringen?
Ja, es ist möglich, das passende Nährstoffprofil bereitzustellen. Falls die Umsetzung eines vollwertigen Nährstoffprofils einmal nicht hundertprozentig gelungen ist, dann sollte sehr sichtbar auf der Verpackung darauf hingewiesen werden, womit das Produkt beim Verzehr zu ergänzen ist. Genauso ist es wichtig, zu verdeutlichen, womit die Produkte bereits angereichert sind, etwa Vitamin B12 und Jod.
Kann ein Produktentwicklungsteam von Ihrer Expertise profitieren? Bieten Sie Fortbildungen oder Kurse an?
Mein Hauptgeschäft sind Fortbildungen, Beratungen und Lehre; meine Erfahrung für die Produktion und Restentwicklung gebe ich in Form einer mehrtägigen Inhouse-Veranstaltung weiter, immer entsprechend den individuellen Bedarfen des Unternehmens. Das Projektziel sollte schon definiert sein – zuallererst muss klar sein, ob es um die Produktentwicklung für die ersten Monate der Beikost geht oder eher um Lebensmittel für Kleinkinder. Interessierte Abteilungen können mich dazu gern per Mail kontaktieren und die groben Wünsche an Fortbildungsinhalte mitteilen.
Ein anderes Szenario liegt vor, wenn eine Rezeptur bereits besteht. Mein Job besteht dann darin, die Bedarfe für Eltern und Kind im Blick zu behalten, Hinweise in Bezug auf Geschmack, Textur oder auch Regionalität zu geben und Unternehmen bei der Finalisierung des Produkts zu beraten. Dies lässt sich auch in Form einer Online-Beratung umsetzen.
Weiterhin gebe ich Beikost-Vorträge und umfassende Fortbildungen für Hebammen oder Eltern und natürlich auch für Ernährungsfachkräfte. Die Ziele beziehungsweise Fortbildungsinhalte sind unterschiedliche und legen wir individuell fest.
Sie hatten es vorhin erwähnt; gegebenenfalls müsste Kleinkindernahrung angereichert werden mit B12. Haben Sie Erkenntnisse gewonnen, wie stark die Auswirkungen sein können, wenn ein Kind zu wenig Vitamin B12 bekommt?
Es handelt sich um äußerst bedauernswerte Auswirkungen. Ein kompletter Mangel ist mit dem Leben nicht vereinbar. Außerdem können die unterschiedlichsten Störungen auftreten, etwa Entwicklungsstörungen oder Nervenstörungen. Die meisten Symptome eines Vitamin-B12-Mangels, insbesondere die neurologischen Schäden, sind irreversibel.
Genau diese Gefahren werden häufig von ärztlicher Seite, aber auch von der DGE und den großen Institutionen, vermittelt. Es wird leider weniger darauf geschaut, welche Eltern und Kinder das alles ganz wunderbar machen, indem sie Vitamin B12 im Alltag substituieren. Leider gibt es auch heute noch einige Ärzte, die zu wenig darüber wissen, dass Vitamin B12 supplementiert werden muss. Sie lassen sich häufig nicht auf eine pflanzenbasierte Ernährung ein und verfügen über zu wenig Hintergrundwissen. Deswegen ist mein Anliegen, Ernährungsfachkräfte, Hebammen und Ärzte weiterzubilden, dass sie alle zumindest erst einmal Ja sagen, im Sinne von: „Ja, ich akzeptiere diese Ernährungsform; ja, ich habe Ahnung und jetzt kann ich helfen, oder ja, ich bin bereit, an jemanden weiterzugeben, der Ahnung hat.“
Oft erlebe ich in der Beratung, dass diejenigen Eltern, die in Schwangerschaft, Stillzeit, im ersten Lebensjahr ihre Kinder vegan versorgen, sehr gut informiert sind und bewusst vorgehen. Manchmal wünschte ich, dass mischköstlich ernährte Familien sich auch so viele Gedanken machen.
Nehmen wir einmal die Unternehmen in den Fokus, die an veganer Pre-milch arbeiten. Da gibt es auch noch nicht sehr viele Anbieter. Sehen Sie Optimierungspotenziale? Haben Sie konkrete Tipps für diese Unternehmen?
Ich kenne in Deutschland keinen veganen Prämilchanbieter. Es gibt eine diätetische Nahrung, die aber keine Anfangsnahrung nach den Diätverordnungen darstellt. In der Schweiz existiert eine sehr gute vegane Nahrung. Es wäre wünschenswert, wir hätten eine pflanzenbasierte, ausgewogene Pränahrung hier in Deutschland, eine, in der alle Nährstoffe enthalten sind.
Gibt es die Voraussetzungen dafür? Könnten Sie sich vorstellen, auch dahingehend Unternehmen zu beraten?
Na klar, das wäre auf jeden Fall möglich. Man muss sehr genau auf die Zusammensetzung schauen. Es ist zu prüfen, wie die Pränahrung auf Kuhmilchbasis beziehungsweise auf Ziegenmilchbasis konzipiert ist und davon ausgehend eine Alternative entwickeln. Wenn das Endprodukt zum Beispiel auf Sojaprotein basiert, ist etwas mehr Protein reinzugeben, um an den Proteingehalt der Kuhmilchbasis zu kommen. Die biologische Wertigkeit der beiden Proteinquellen unterscheidet sich.
Großartig wäre auch eine Alternative ohne Sojabasis, etwa aus Reis- oder Mandelprotein oder gar Getreideeiweiß oder Linsen. Sojaproteine sind unbedenklich, auch für Säuglinge, sofern keine allergische Disposition besteht. Was allerdings nicht geht, ist einfach einen Sojadrink kaufen und einem Kind in die Flasche geben. Den Sojadrink in einer kleinen Menge, etwa 100 bis 150 Milliliter, kann man in Form von Brei anbieten, etwa ab dem siebten, achten Lebensmonat. Die Mengen können mit den Monaten allmählich gesteigert werden.
Sehen Sie eine bestimmte Produktkategorie, die unbedingt entwickelt werden sollte, für vegane Kleinkinder oder auch größere vegan lebende Kinder?
Es fehlt ein Snack, von dem Kinder tatsächlich satt und gleichzeitig versorgt werden. Im Moment gibt es Hirsekringel, Reiswaffeln oder Trockenfruchtriegel. Aber ein Produkt, in dem das Getreide und Hülsenfrüchte gut verarbeitet und mit Nüssen kombiniert werden, das fehlt auf dem Markt.
Noch viel mehr am Herzen liegt mir ein passender pflanzlicher Drink, der mit Vitamin B2, B12 und Calcium angereichert und zugleich ungesüßt ist. Etwas, wobei ich sagen kann: „Damit kannst du einen Brei zubereiten, damit kannst du deinem Kind demnächst ein Porridge machen, damit kannst du deine Béchamelsoße kochen und du hast immer eine ähnliche Versorgung wie zuvor mit einer Kuhmilch.“ Derzeit existieren zwei Drinks für Kleinkinder, die genau in der wünschenswerten Form angereichert sind. Diese haben eine gute Nährwertanalyse, aber sie sind vom Geschmack her für meine Begriffe nicht geeignet, um essen zu lernen – es sind zu viele Aromen enthalten, die vom ursprünglichen Geschmack ablenken.
Das Potenzial im Bereich der Pflanzendrinks ist weiter groß. Wir sehen auch bei zahlreichen Vegetariern oder Flexitariern, dass schon deutlich weniger Kuhmilch konsumiert wird, weil viele merken, dass es ihnen nicht gut bekommt oder nicht gut schmeckt. Einige Eltern sagen, dass sie ihrem Kind noch gar keine Kuhmilch geben möchten. Allein für diese Gruppe an Mischköstlern ist es bedeutsam, einen Drink zu entwickeln, den man Beinahe-Milch nennen kann. Auch beschränkt sich das Potenzial nicht ausschließlich auf Kinder, sondern gleichermaßen auch Schwangere oder stillende Mütter, für die eine gute Versorgung so zentral ist.
Weiterhin gibt es die große Hürde, dass im Bio-Bereich nicht angereichert werden darf, wo doch insbesondere Veganerinnen und Veganer gerade jetzt für ihre Kinder Bioprodukte verwenden wollen.
Gibt es ein Ingredient, welches Sie an dieser Stelle gerne weiterempfehlen, das Sie als eine Art Superfood ansehen, oder das noch verkannt ist?
Aus meiner Sicht sind das die hochwertigen Öle wie Leinöle oder Mikroalgenöle, die eben gut mitverarbeitet werden sollten. Sie werden aufgrund der mehrfach ungesättigten Fettsäuren dringend gebraucht. Auch Jod, also in Form von Algen, wie ich eingangs erwähnte, wird bisher kaum eingesetzt.
Noch eine Zusatzfrage. Zumindest in der westlichen Gesellschaft sieht es so aus, dass die Pubertät in den letzten Jahrzehnten immer früher einsetzt. Würden Sie das der heutigen Ernährung zuschreiben?
Solch ein Phänomen entwickelt sich nicht innerhalb einer einzelnen Generation. Ja, es hat mit unserem Wohlstand zu tun, in dem Sinne, dass viel Eiweiß gegessen wird. Mehrere Millionen Kinder im deutschsprachigen Raum sind übergewichtig. Der frühe Start der Pubertät, insbesondere der körperlichen Sexualreife, ist abhängig vom Fettgewebe. Um Missverständnisse zu vermeiden: ich kann auch vegan leben und übergewichtig werden. Jeglichen Lebensstil kann ich sehr gut, gut, schlecht und sehr schlecht ausleben, ob nun als vegane, vegetarische oder flexitarische Person.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Gätjen.
Edith Gätjen steht für Beratungsgespräche und Inhouse-Veranstaltungen rund um das Thema vegane Großgastronomie und vegane Produktentwicklung zur Verfügung. Anfragen per E-Mail an edith@gaetjen.de
Ein Hinweis von Frau Gätjen an Endverbraucher: Es sollte eine Ausnahme darstellen, einen Säugling mit Gläschenkost zu ernähren, etwa auf Reisen oder wenn es einmal schnell gehen soll. Als Familie kann man sich gut vorbereiten. Ich weiß, dass der Alltag viele Hürden hat und dass die umfassende Vollwerternährung für viele aufwendig ist. Genau aus dem Grund gebe ich zahlreiche Kurse, nämlich um zu zeigen, wie simpel die Vorbereitung sein kann. Es ist möglich, ohne Formularnahrung und Gläschenkost im ersten Lebensjahr auszukommen.