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Im Interview mit Niko Rittenau: „Eine Ernährungswende hin zu einer pflanzenbetonteren Kost kann nur dann stattfinden, wenn es eine Optimierung der Nährstoffdichte pflanzlicher Lebensmittel gibt“

fleischalternativen
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Niko Rittenau ist Ernährungswissenschaftler mit dem Fokus auf pflanzliche Ernährung. Er ist Doktorand der Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften und veröffentlicht auf den sozialen Medien regelmäßig Videos und Beiträge zu Ernährungsthemen für seine über 100.000 Follower auf YouTube und Instagram. Er ist außerdem Produktentwickler für Unternehmen wie Watson Nutrition und Foodist und Autor von fünf Spiegel-Bestsellern zu veganer Ernährung. Wir haben mit ihm über das Potenzial von angereicherten veganen Lebensmitteln und die Notwendigkeit einer zeitnahen Ernährungswende gesprochen.

Herr Rittenau, warum sollte die vegane Industrie stärker die Anreicherung von Lebensmitten mit Nährstoffen fokussieren?

Die Anreicherung von Lebensmitteln mit Nährstoffen im Allgemeinen bzw. die Anreicherung von veganen Alternativprodukten im Speziellen sind wichtige Hebel zur Verbesserung der Nährstoffversorgung der Bevölkerung. In Ländern wie den USA ist eine Nährstoffanreicherung bereits deutlich verbreiteter und zeigte im Rahmen von Verzehrstudien positive Effekte auf die Nährstoffzufuhr der Bevölkerung.

Dadurch, dass traditionelle Ernährungsweisen mit vielen vollwertigen pflanzlichen Lebensmitteln sowie „Nose to Tail“-Tierprodukten (also quasi die gesamte Verwertung aller Teile des Tieres) heutzutage in westlichen Ländern kaum noch vertreten sind, ist die Nährstoffzufuhr des Großteils der westlichen Welt suboptimal. Gerade im Bereich der veganen Fleisch-, Fisch- und Käsealternativen muss eine Anreicherung dringend stattfinden, da aktuell die Nährstoffdichte der allermeisten Produkte in diesem Sektor wesentlich schlechter als jener ihrer tierischen Äquivalenzprodukte ausfällt.

Das geht zu Lasten der Gesundheit der Konsumenten, denn es fehlt veganen Fischalternativen zum Beispiel an den langkettigen Omega-3-Fettsäuren EPA und DHA und anderen Nährstoffen, die man in herkömmlichem Fisch findet. Es fehlt veganen Ei-Alternativen u.a. an Cholin und anderen Nährstoffen, die dicht konzentriert im Ei stecken und vegane Käsealternativen enthalten zumeist kaum Calcium und andere wichtige Nährstoffe, die sich in regulärem Käse befinden. In veganen Fleischalternativen wäre auch eine Anreicherung mit sogenannten „Carni Nutrients“ wie beispielsweise Kreatin und Carnitin ebenso wie die Zugabe von Zink und anderen Mineralstoffen sowie Vitamin B12 und weiteren Vitaminen wichtig, denn all diese stecken dicht konzentriert in Fleisch und sind in Fleischersatz nicht bzw. kaum enthalten. Solange das nicht der Fall ist, kann man nicht erwarten, dass die hiesigen Ernährungsfachgesellschaften wie die DGE eine vegane Ernährung in jeder Lebensphase empfehlen.

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Ernährungswissenschaftler Niko Rittenau © Niko Rittenau

Was sind Nachteile von angereicherten Lebensmitteln?

Nachteile weist eine Nährstoffanreicherung auf gesundheitlicher Ebene nur auf, wenn sie nicht gut durchdacht oder schlecht umgesetzt ist. Die potenziellen Nachteile für Lebensmittelproduzenten sind – zumindest sofern die Nährstoffe für die Anreicherung erst nach der Verarbeitung zugesetzt und nicht durch Fermentation oder andere Techniken ins Lebensmittel gebracht werden – die längeren Zutatenlisten, die zwar eigentlich völlig unproblematisch wären, aber bei Verbrauchern fälschlicherweise negativ konnotiert sind.

Ein weiterer Nachteil sind höhere Kosten sowie die technologischen Herausforderungen, um die Nährstoffanreicherung so hinzubekommen, dass der Geschmack und die Textur der Lebensmittel nicht darunter leiden und die Nährstoffe auch während dem Verarbeitungsprozess gut geschützt sind. Das ist keine Raketenwissenschaft, aber es benötigt durchaus einiges an Vorwissen und Produkttests sowie erstmals ein verstärktes Problembewusstsein auf Seiten der veganen Verbraucher, die glaube ich gar nicht wissen, wie viel schlechter der Nährwert der allermeisten veganen Fleisch-, Fisch- und Käsealternativen im Vergleich zu deren tierischen Äquivalenten ist.

Eine Ernährungswende hin zu einer pflanzenbetonteren Kost kann nur dann stattfinden, wenn es eine Optimierung der Nährstoffdichte pflanzlicher Lebensmittel gibt. Ansonsten würde die Bevölkerung – sofern sie nicht umfassend genug auf eigene Kosten und eigene Verantwortung hin passende Nahrungsergänzungsmittel einnimmt – deutliche Nährstoffdefizite entwickeln. Diese zusätzlichen Kosten und die Verantwortung sollte man nicht auf die Konsumenten abladen. Unternehmen sollten durch eine ernährungsphysiologisch optimierte Lebensmittelproduktion eine Nahrungsergänzung auf Dauer überflüssig machen und Produkte produzieren, die nicht nur tierfreundlich, nachhaltig und lecker, sondern eben auch nährstoffdichter sind.

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Welche Kriterien sollte aus ihrer Sicht die Food Industrie beim Anreichern von veganen Alternativprodukten anlegen? 

Der Minimalmaßstab in der Anreicherung veganer Ersatzprodukte sollte die jeweilige Nährstoffdichte im tierischen Äquivalentprodukt sein. Vegane Käsealternativen sollten also beispielsweise einen ebenso hohen Gehalt an Protein, Calcium, Jod, Vitamin B12, B2 und anderen Mikronährstoffen aufweisen, die sich dicht konzentriert in herkömmlichem Käse befinden. Zusätzlich könnten vegane Käsealternativen damit punkten, dass sie ein verbessertes Fettsäurespektrum im Vergleich zu Kuhmilchkäse bekommen und beispielweise auch gewisse andere potenziell kritische Nährstoffe erhalten, die in der Bevölkerung zumeist zu kurz kommen. Im Optimalfall würde man so vegane Käsealternativen erhalten, die nicht nur einen vergleichbaren, sondern sogar einen besseren Nährwert aufweisen.

Dieselben Maßstäbe würden dann auch für andere vegane Alternativprodukte gelten, aber auch gewisse vegane Grundprodukte wie Tofu, Tempeh und Seitan würden von einer Nährstoffanreicherung deutlich profitieren. Würde man die Nährstoffdichte dieser Produkte optimieren, wären sie auch eher eine attraktive Wahl für gesundheitsbewusste Mischköstler, die dann aus meiner Sicht auch öfter bereit wären, ihre tierprodukthaltigen Mahlzeiten zu veganisieren.

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Lange Zutatenlisten haben bei vielen Verbrauchern einen schlechten Ruf. Gerade vegane Alternativprodukte werden immer wieder als „chemisch“ oder „unnatürlich“ bezeichnet. Sind lange Zutatenlisten automatisch schlecht?

Im Rahmen einer Nährstoffanreicherung würde die Zutatenliste selbstverständlich in einigen Fällen länger werden, da jeder einzelne zugesetzte Nährstoff auch in der Zutatenliste erscheint. Daher wäre es zeitgleich auch wichtig, Konsumenten besser über die Vorteile einer Nährstoffanreicherung aufzuklären, damit sie verstehen, dass die Länge einer Zutatenliste erstmals keine Aussagekraft hat. Die Frage ist nicht, wie lang oder kurz die Zutatenliste ist, sondern welche Zutaten bzw. Inhaltsstoffe enthalten sind.

Außerdem besteht auch die Möglichkeit die Nährstoffdichte von Produkten zu erhöhen, ohne dass dies auf der Zutatenliste vermerkt werden muss, da dort nur jene Nährstoffe angeführt werden müssen, die nachträglich zum Produkt hinzugefügt wurden. Wenn man beispielsweise im Rahmen des Anbaus von Lebensmitteln bereits durch die Düngung oder im Laufe eines Fermentationsprozesses die Nährstoffdichte erhöht, dann gibt es keine Verpflichtung dies anzuführen. Pflanzen und Pilze sind immens spannende Lebensmittel, deren Potenzial noch nicht im Ansatz genutzt wird und ich hoffe sehr, dass Unternehmen dieses Leistungsvermögen zukünftig vermehrt ausschöpfen werden.

In Bezug auf falsche Vorurteile wie die vermeintliche „Unnatürlichkeit“ müsste eine noch bessere Aufklärung der Verbraucher stattfinden. Im Moment sind wir noch in der unglücklichen Situation, dass Konsumenten oft gar nicht wissen, was sie eigentlich in Bezug auf ihre Ernährung bräuchten und Unternehmen zeigen ebenfalls zu wenig Interesse für eine proaktive Optimierung der Lebensmittelproduktion. Dabei steckt so viel Potential für unsere Gesundheit in unserer Ernährung. Schlechte Ernährung ist laut der „Global Burden of Disease Study“ in Deutschland der größte Risikofaktor für unsere Gesundheit und könnte im Umkehrschluss, wenn wir eine Ernährungswende vollziehen, zum größten Schutzfaktor werden.

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Sagt umgekehrt die „Natürlichkeit“ eines Lebensmittels etwas über den gesundheitlichen Wert eines Lebensmittels aus?

Nicht per se, denn nicht alles Natürliche ist automatisch gesund und nicht alles Unnatürliche ist automatisch ungesund. Eine Ernährungsweise ist dann als gesund zu bewerten, wenn sie es schafft den Bedarf des Menschen an lebensnotwendigen Nährstoffen zu decken und es schafft, Überschüsse an potenziell abträglichen Stoffen zu vermeiden. In Bezug auf jedes einzelne Lebensmittel bedeutet das, dass jene als besonders gesund zu bewerten sind, die möglichst viel zu unserer Nährstoffbedarfsdeckung beitragen und andererseits jene Stoffe, die im Übermaß abträglich wirken können, eben nicht zu hoch konzentriert enthalten.

Wie natürlich oder unnatürlich ein derartiges Lebensmittel ist, spielt allerdings keine Rolle. „Natürlichkeit“ ist außerdem ein extrem schwammiger Begriff. Wo fängt Natürlichkeit bei Lebensmitteln an und wo hört sie auf? Quasi jedes Obst, Gemüse, Getreide und andere pflanzliche Lebensmittel sind das Ergebnis eines selektiven Züchtungsprozesses unserer Vorfahren und kein einziges existierte so in der Natur. Auch jedes einzelne sogenannte Nutztier existierte so nicht, sondern ist ebenfalls das Ergebnis eines menschengemachten Züchtungsprozesses. Daher könnte man durchaus sagen, dass jedes einzelne Lebensmittel unserer heutigen Ernährung bereits vor der Verarbeitung schon unnatürlich ist.

Auch der Begriff „hoch verarbeitet“ sagt noch nichts über den gesundheitlichen Wert aus. Es kommt eben auf die Art der Verarbeitung an. Es ist ein logischer Fehlschluss nach mehr Natürlichkeit zu streben, da quasi unser gesamter Lebensentwurf bzw. die gesamte menschliche Kultur im Gegensatz zur Natur steht und wir sollten auch nicht den Fehler begehen die Natur fälschlich zu romantisieren. Erst durch das „unnatürliche“ Zutun des Menschen können wir heute ein derart komfortables Leben führen.

Auch wenn in Sachen Lebensmittelproduktion noch viel falsch läuft, sollten wir uns dennoch vor Augen führen, wie viel Großartiges bereits geschaffen wurde und wie privilegiert wir alle hierzulande sind. Die wichtige Frage in Sachen Ernährung lautet nicht, ob diese natürlich oder unnatürlich ist, sondern ob sie gesund oder ungesund ist und wie umweltverträglich und ethisch sie ist.

Herr Rittenau, wir bedanken uns für das ausführliche Gespräch.

Erfahren Sie mehr unter: www.nikorittenau.com und www.youtube.com/nikorittenau

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