Hochverarbeitete Lebensmittel (Ultra-Processed Foods, UPF) haben, unabhängig von ihrem Nährstoff- und Kaloriengehalt, einen schlechten Ruf.
Insbesondere vegane Produkte, wie Fleisch-, Milch- oder Eieralternativen, sind häufig dem Vorwurf ausgesetzt, ultraverarbeitet und damit ungesund zu sein.
Offener Brief aus der Wissenschaft
Die Wissenschaftlerinnen Hannelore Daniel, ehemalige Leiterin des Lehrstuhls und Direktorin der Physiologie der Humanernährung an der Technischen Universität München, und Thomas Henle, Inhaber des Lehrstuhls für Lebensmittelchemie an der Technischen Universität Dresden, sprechen sich in einem offenen Brief gegen die Verwendung des Begriffs „hochverarbeitete Lebensmittel“ sowie der NOVA-Klassifizierung in den Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften aus.
„Wissenschaft muss objektiv, neutral und überprüfbar sein. Die NOVA-Klassifikation und der Begriff ‚Hochverarbeitete Lebensmittel‘ erfüllen diese Anforderungen nicht. Für fundierte Ernährungsempfehlungen ist eine differenziertere Betrachtung der Nährstoffzusammensetzung und der
spezifischen Inhaltsstoffe nach wie vor unerlässlich. Die Lebensmittel- und
Ernährungswissenschaften müssen sich auf evidenzbasierte Konzepte stützen und dürfen sich nicht von öffentlichkeitswirksamen Begrifflichkeiten leiten lassen.“, heißt es in dem Schreiben.
Der Wissenschaftler und Autor Prof. Dr. Martin Smollich bezeichnet den offenen Brief als ein „wichtiges Plädoyer aus der Wissenschaft“. Er selbst begründet in einem aktuellen Übersichtsartikel, warum er das UPF-Konzept aus wissenschaftlicher und ernährungsmedizinischer Perspektive als unhaltbar beurteilt.
Industrieverbände und Ernährungsgesellschaften positionieren sich kritisch
Der Schweizerische Verband für alternative Proteinquellen (SPA) vertritt in einem Positionspier ebenfalls die Auffassung, dass die Ernährungsqualität von Lebensmitteln durch die gängige NOVA-Klassifizierung nicht angemessen beurteilt werden kann.
„Kein nachgewiesener kausaler Zusammenhang zwischen Verarbeitung und gesundheitlichen Beeinträchtigungen“
„Die Lebensmittelverarbeitung ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Ernährungssystems und trägt zur sicheren, gesunden und nachhaltigen Ernährung bei. Besonders die Verarbeitung alternativer Proteinquellen für Fleisch-, Fisch- oder Milchalternativen fördert eine nachhaltige Ernährung.
Hochverarbeitete Lebensmittel und deren Einfluss auf die Gesundheit sind viel diskutiert. Die NOVA-Klassifizierung, die Lebensmittel nach Verarbeitungsgrad und nicht anhand der Nährstoffzusammensetzung und Nährstoffqualität einteilt, ist ungeeignet, um die Qualität der Ernährung sowie deren Einfluss auf die Gesundheit zu beurteilen. Wir lehnen deshalb die NOVA-Klassifizierung als Grundlage für Ernährungsempfehlungen und Verordnungen ab, da es keinen nachgewiesenen kausalen Zusammenhang zwischen Verarbeitung und gesundheitlichen Beeinträchtigungen gibt. Industriell ist nicht gleich hochverarbeitet und hochverarbeitet nicht gleich ungesund.“, heißt es in dem Papier der SPA.
Ernährungsgesellschaften halten weitere Forschung für erforderlich
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hält das NOVA-Klassifizierungssystem für hilfreich, nennt jedoch gewisse Einschränkungen, „u. a., weil es bei der Zuordnung von Lebensmitteln nach dem Verarbeitungsgrad Interpretationsspielraum lässt“ und hält weitere Forschung zu stark verarbeiteten Lebensmitteln für erforderlich.
Das NNR Komitee befindet, dass mehr Daten benötigt werden, um zu bestimmen, ob die NOVA-Klassifizierung von ultraverarbeiteten Lebensmitteln im Vergleich zu den herkömmlichen Lebensmittelkategorisierungen einen Mehrwert bietet. Es weist auch darauf hin, dass im NOVA-Rahmen viele Lebensmittel, darunter beispielsweise auch industriell hergestellte Babynahrung oder in der Bäckerei hergestelltes Vollkornbrot und Gemüseprodukte je nach ihrer Formulierung und Verarbeitung als ultraverarbeitete Lebensmittel eingestuft werden.
In der Stellungnahme der British Nutrition Foundation zum Konzept der ultra-verarbeiteten Lebensmittel (UPF) heißt es u.a., dass Studien keine eindeutigen Beweise liefern „für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verarbeitung an sich und der Gesundheit. Gegenwärtig gibt es im Vereinigten Königreich keine einheitliche Definition für UPF, und in den Ernährungsempfehlungen der Regierung wird nicht auf sie Bezug genommen.“
Präzisere Klassifizierung ist gefragt
Die Diskussion um die NOVA-Klassifizierung und den Begriff „hochverarbeitete Lebensmittel“ verdeutlicht, wie schwierig es ist, komplexe Ernährungsfragen auf einfache Kategorien zu reduzieren. Eine pauschale Ablehnung von hochverarbeiteten Lebensmitteln könnte sich als ebenso problematisch erweisen wie eine unkritische Akzeptanz, weshalb weiterführende Forschung und eine präzisere Klassifizierung gefragt sind.