Zehn Milliarden – so viele Menschen werden laut Prognosen etwa 2083 auf der Welt leben. Wie können so viele Erdlinge ernährt werden? Und zwar so, dass die Umwelt nicht kollabiert? Unter anderem mit dieser Frage beschäftigt sich der Verein Öko-Progressives Netzwerk. Der Verein sucht nach einem Ernährungssystem, das alle Menschen fair und gesund versorgt und dabei einen viel geringeren Einfluss auf Öko- und Atmosphäre hat als heute. Die Einstellung „früher war alles besser“ – vom Verein auch als öko-reaktionär bezeichnet – ist laut dem Netzwerk dabei wenig hilfreich. Nachhaltigkeit im 21. Jahrhundert müsse nach vorne schauen, in eine neue Zukunft – öko-progressiv eben.
Im Interview mit uns sprechen die Vorstandsmitglieder Johannes Kopton und Martin Reich darüber, warum aktuelle Umweltprobleme nicht mit öko-reaktionären Konzepten gelöst werden können und was der Verein von der Kulturfleisch-Idee hält. Reich ist promovierter Biologe und beim Verlags- und Fachinformationsunternehmen BIOCOM als Wissenschaftsredakteur und -kommunikator tätig. Zudem ist er Autor des Buchs „Revolution aus dem Mikrokosmos – Nachhaltige Ernährung durch Fermentation“. Der Kybernetiker und Agrarwissenschaftler Kopton ist Doktorand an der Universität Bonn. Er hat die Idee des Öko-Progressivismus ursprünglich geprägt.
Der Verein Öko-Progressives Netzwerk unterscheidet zwischen den Kategorien öko-progressiv und öko-reaktionär. Vertreter dieser beiden Konzepte haben eigentlich das gleiche Ziel: eine ökologisch verträgliche Lebensweise. Doch während öko-progressive Menschen hierbei auch den Einsatz neuer Technologien befürworten, möchten öko-reaktionäre Personen moderne Entwicklungen eher zurückdrehen. Wie erklären Sie sich speziell bei umweltbewussten Leuten diese Einstellung nach dem Motto „früher war alles besser“?
Johannes Kopton: Es ist gar nicht so einfach zu sagen, wie genau eine ökologisch verträgliche Lebensweise aussieht. Da sind ganz unterschiedliche Grenzen, die wir dafür nicht überschreiten dürfen. Die Fähigkeit der Ökosphäre unseren „Abfall“, etwa CO2-Emissionen oder übermäßig nährstoffreiches Abwasser, aufzunehmen, ist begrenzt. Aber auch die Fläche, die wir für die Produktion von Lebensmitteln und anderen Gütern verwenden können, ist endlich und steht außerdem in Konkurrenz zu natürlichen Lebensräumen.
Längst ist klar, dass diese Grenzen an vielen Stellen überschritten werden, wie wir an der Klima- und Biodiversitätskrise sehen können. Viele dieser Probleme, gab es vor 200 Jahren noch nicht, zumindest nicht so sichtbar wie heute, und deswegen liegt es ja total nahe, die Frage zu stellen, warum wir es nicht einfach wieder so machen können wie früher.
Und warum können wir es nicht einfach wieder so machen wie früher?
Johannes Kopton: Vor 200 Jahren gab es keine Glyphosat-Rückstände im Essen, keine Stickstoffüberschüsse in den Gewässern, keine Klimakrise, und die gesamte landwirtschaftlich genutzte Fläche war circa 70 Prozent kleiner. Wäre man vor 200 Jahren durch die Felder gegangen, wäre man unzähligen Wildbienen, Schmetterlingen und bunten Blumen begegnet. Dieser auf den ersten Blick wahnsinnig romantische vorindustrielle Zustand scheint also der Schlüssel für fast alle Nachhaltigkeitsprobleme, praktisch eine Blaupause für eine ökologisch verträgliche Lebensweise zu sein.
Dass zu dieser Zeit in Mitteleuropa etwa jedes zweite Kind nicht das Erwachsenenalter erreichte oder fast die Hälfte der Menschen, die heute auf der Welt leben, ohne synthetischen Stickstoffdünger verhungern würden, findet in dieser öko-reaktionären Erzählung keinen Platz.
Und wie gehen öko-progressive Menschen an das Problem heran?
Johannes Kopton: Ausgehend von der Erkenntnis, dass es vollkommen unmöglich wäre, mit den technischen Möglichkeiten der vorindustriellen Vergangenheit alle heute und in Zukunft lebenden Menschen gesund zu ernähren (und dass allein der Versuch auch eine ökologische Katastrophe wäre), stellen sich öko-progressive Menschen die Frage, welche Technologien zu einer nachhaltigen Lebensweise der Zukunft beitragen können. In dem Bewusstsein, dass Technologien immer in einen sozialen, ökonomischen und politischen Kontext eingebettet sind, werden auch etwa zu Fragen nach Macht, Besitzverhältnissen und Verteilungsgerechtigkeit, progressive Lösungen gesucht.
Künstlich und unnatürlich – mit diesen Begriffen wird kultiviertes Fleisch oftmals von Befürwortern der ökologischen Landwirtschaft betitelt. Wie kommt diese Angst vor dem vermeintlich Unnatürlichen und Künstlichen ihrer Meinung nach zustande?
Johannes Kopton: Schon seit langer Zeit teilen Menschen Phänomene in „natürlich” und „künstlich”, aber auch in „natürlich” und „übernatürlich” oder „natürlich” und „widernatürlich” ein. Meistens gehen diese Kategorien mit einer unausgesprochenen Wertung (natürlich = gut) einher.
Dinge positiv zu bewerten, nur weil sie (zum Beispiel in der Natur) so sind, nennt man in der Moralphilosophie einen „naturalistischen Fehlschluss” beziehungsweise Argumentum ad naturam (Appeal to nature). Laut dem Moralpsychologen Jonathan Haidt gibt es im Menschen eine angeborene Neigung dazu, das „Reine” oder „Heilige” bewahren zu wollen. Gerade in Gesellschaften, in denen Religionen eine immer geringere Rolle spielen, tritt oft eine konstruierte Natürlichkeit an diese Stelle. Immer wieder wurde diese Natürlichkeitserzählung als politische Waffe verwendet, etwa zur Rechtfertigung von Kolonialverbrechen („Recht des Stärkeren”), für die Unterdrückung der Frau, oder zur Abwertung von Homosexualität.
Welche Aktivitäten als „natürlich” und welche als „unnatürlich” betrachtet werden, wird dabei geschickt den jeweiligen Zielen angepasst. Das „Zauberlehrling-Motiv”, bei dem sich jemand auf etwas Unnatürliches einlässt, das ursprünglich nützlich ist, dann aber außer Kontrolle gerät, ist tief in unserer Kultur verankert.
Wie ist diese Zurück-Zur-Natur-Mentalität entstanden?
Johannes Kopton: Zurzeit der Lebensreformbewegung, auf die nicht nur die Reformhäuser und die moderne Naturkosmetik zurückgehen, sondern die auch die ökologische Landwirtschaft in Deutschland stark inspiriert hat, wurden erste negative Folgen der Industrialisierung sichtbar. Eine Rückkehr zur Natur wurde als „heilsam” propagiert. In den 1970er und 80er Jahren waren die (zumindest der Wahrnehmung nach) größten Gesundheitsrisiken tatsächlich Nebenprodukte von hochtechnischen menschlichen Aktivitäten, etwa der Energiegewinnung durch Kernkraft. Das hat erneut eine ganze Generation mit unterbewussten Wertungen von „Natürlichem” und „Künstlichem” geprägt. So werden die Erzählungen von der guten Natur immer wieder reproduziert.
Was halten Sie in ihrem Verein von kultiviertem Fleisch? Stellt es eine jener modernen Technologien dar, die Ihr Verein im Sinn hat, wenn es um die Schaffung einer nachhaltigeren Landwirtschaft geht?
Martin Reich: Bei der Frage, welche Ansätze und Technologien zu einer nachhaltigen Landwirtschaft beitragen können, halten wir uns an unseren evidenzbasierten Grundsatz, also Einordnungen aus der Wissenschaft. Fleisch aus Zellkultur wird ein theoretisch großes Potenzial zugeschrieben, weil es konventionelle Tierhaltung ersetzen und viele ihrer negativen Einflüsse auf Klima und Umwelt mindern könnte. Neben diesen, erst einmal theoretischen Chancen, hängt die Realisierung des Potenzials aber von vielen Randbedingungen ab. Diese sind technischer, ökonomischer, regulatorischer und sozialer Natur.
Vor allem bei den technischen und ökonomischen Hürden wird sich in den nächsten Jahren herausstellen, ob eine nachhaltige Produktion von Fleisch aus Zellkultur im größeren Maßstab wirtschaftlich ist. Gleichzeitig sollten regulatorisch nicht noch weitere Hürden für diese neuen Technologien aufgebaut werden. Als Teil der Gesellschaft können wir dazu beitragen, dass sich Politik und Gesellschaft für diese neuen Technologien und ihr Potenzial interessieren und seine Entwicklung fördern oder zumindest nicht behindern. Ob Fleisch aus Zellkultur das Ernährungssystem am Ende wirklich nachhaltiger macht, kann heute niemand sagen. Wenn es jedoch gar nicht versucht wird, dann wird es diesen Beitrag ganz sicher nicht leisten. Wir müssen potenziellen Lösungen eine Chance geben.
Ein Vorwurf, der ebenfalls oft erhoben wird, ist, dass hinter kultiviertem Fleisch die großen Konzerne der Agroindustrie stecken, die sich Patente für die neue Errungenschaft sichern wollen und damit die bäuerliche und ökologische Landwirtschaft zerstören. Was halten Sie von diesem Argument?
Martin Reich: Bisher stehen hinter Fleisch aus Zellkultur, wie hinter vielen anderen Innovationen im Food-Bereich, im Gegenteil kleine Startups, Ausgründungen aus Universitäten und Risikokapitalgeber. Die wenigen großen Agrar- und Lebensmittelkonzerne, die den Weltmarkt dominieren, stehen aber natürlich bereit, um sich im Falle sich abzeichnender Durchbrüche Technologien und entstehende Patente zu sichern.
Ist das Streben nach Patenten denn an sich etwas Schlechtes?
Martin Reich: Patente sind erst einmal kein Merkmal großer Konzerne. Besonders für kleine Startups sind Patente ein sehr wichtiges Instrument, um neue Erfindungen zu sichern. Denn erst so stellen sie einen gesicherten Wert dar.
Besonders bei Hochtechnologien wie Fleisch aus Zellkultur stehen Patente sehr im Mittelpunkt und im Fokus von Investoren. Gleichzeitig bedeutet etwas zu patentieren auch immer, dass man es öffentlich macht und so zum Fortschritt insgesamt beiträgt. Die Alternative ist die Geheimhaltung, dann erfährt niemand etwas und die Technologie ist für das Unternehmen trotzdem vorerst geschützt. Die Diskussion über Patente wird also in der Öffentlichkeit zu unterkomplex geführt.
Muss sich die herkömmliche Landwirtschaft wegen der zellulären Landwirtschaft Sorgen machen?
Martin Reich: Falls Technologien wie Fleisch aus Zellkultur oder auch neue Fermentation einen Teil der Urproduktion ersetzen, ist dies eine Konkurrenz zur bisherigen Landwirtschaft. Was aber häufig vergessen wird: Der Fleischkonsum wird weltweit noch weiter ansteigen, selbst, wenn wir hierzulande Reduktion schaffen.
Wir brauchen in den kommenden Jahrzehnten also noch mehr Fleisch. Und um dieses Mehr geht es zunächst einmal, bevor man sich Hoffnung beziehungsweise Sorgen machen kann, dass die neuen Ansätze zu einer Reduktion des heutigen Levels beitragen werden. Die neuen Ansätze als eine Gefahr für die Landwirtschaft zu betrachten, ist meiner Meinung nach deshalb völlig übertrieben und in Teilen eine protektionistisch motivierte Scheindiskussion.
Und wie sieht es mit der bäuerlichen Landwirtschaft aus?
Martin Reich: Die bäuerliche Landwirtschaft hat doch schon heute und seit Jahrzehnten mit Strukturwandel und einer Verlagerung der Wertschöpfung in die verarbeitende Industrie und den Handel zu kämpfen – ganz ohne neue Technologien wie Fleisch aus Zellkultur. Will man hier etwas ändern, braucht man sich nicht mit den neuen Ansätzen zu beschäftigen, das sind alles Ablenkungsmanöver. Italien will zum Beispiel Fleisch aus Zellkultur verbieten, angeblich um die eigene Landwirtschaft zu schützen – dabei weiß doch noch niemand, wann und ob es überhaupt mal breit auf den Markt kommen wird. Das ist meiner Ansicht nach nichts als Populismus, Stimmenfang und Ablenkung von tatsächlichen Problemen, die angepackt werden müssen.
Viele umweltbewusste Menschen argumentieren, dass es wirkungsvoller sei, generell weniger Fleisch zu essen, um die Umwelt zu schützen, anstatt auf eine weitere Technologie wie kultiviertes Fleisch zu setzen. Denn dadurch würden die Menschen noch mehr von der Landwirtschaft und den Lebensmitteln entfremdet. Wie sehen Sie das?
Martin Reich: Man kann und sollte das eine tun, ohne das andere zu lassen. Die Herausforderungen sind derartig groß, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt. Es ist aber auch so, dass Innovation auf der Produktionsseite nun einmal einfacher umzusetzen ist, als Einfluss auf Verhaltensweisen zu nehmen. Und genau das bringen Technologien wie Fleisch aus Zellkultur mit sich: Sie können das, was wir auf dem Teller vorfinden, nachhaltiger machen, ohne es sehr zu verändern.
Da aber auch Fleisch aus Zellkultur im Vergleich zu pflanzlicher Ernährung einen höheren ökologischen Fußabdruck haben dürfte, ist eine Reduktion des Fleischkonsums trotzdem wichtig. Man sollte solche Technologien und ihr Potenzial nie isoliert betrachten. Es gibt gleichzeitig viel Innovation im Bereich pflanzlicher Lebensmittel und Fermentation. Das kann sich im Idealfall alles ergänzen, zu einer gesunden und nachhaltigen Ernährung der Zukunft.
Oftmals wird die Sorge geäußert, dass Landwirte durch kultiviertes Fleisch ihre Arbeit verlieren könnten. Dem wird entgegengehalten, dass Landwirte doch auch Teil dieser neuen zellulären Landwirtschaft werden können – indem sie beispielsweise selbst auf ihrem Hof Fleisch kultivieren, die Spendertiere vorhalten oder sich auf den Anbau von Pflanzen spezialisieren. Wie schätzen Sie das ein?
Martin Reich: Wenn wir dank Fleisch aus Zellkultur nicht weniger Tiere bräuchten als ohne diese Innovation, dann würde sie wenig Sinn ergeben. Es soll ja die Tierhaltung reduziert werden. Also wird es – im Erfolgsfall – zu einer Reduktion der Tierzahlen führen, was laut Wissenschaft sehr begrüßenswert wäre. Damit würde Wertschöpfung aus der Landwirtschaft abwandern, ganz klar.
Die Frage ist, ob das zur Aufgabe von Betrieben führen wird (also einer Beschleunigung des ohnehin stattfindenden Strukturwandels) oder ob diese Betriebe neue Möglichkeiten finden, diesen Wegfall zu kompensieren. Hier gibt es zahlreiche Optionen und viele davon würde ich als vielversprechender einordnen, als selbst auf dem Hof Fleisch aus Zellkultur zu produzieren. Das bestätigen mir bisher auch alle Gespräche mit Agrarökonomen und Landwirten.#
Welche Möglichkeiten sehen Sie?
Martin Reich: Womöglich spezialisieren sich manche Betriebe auf Spendertiere, wobei Stammzellen meines Wissens auch in Zellkultur vermehrt und vorgehalten werden können. Ich bin mir nicht sicher, ob sich hierfür unbedingt jetzige Tierhalter am besten eignen. Manche werden Zuckerpflanzen und auch Eiweißpflanzen herstellen, wie sie es heute schon tun, und einen Teil davon für die Herstellung von Rohstoffen für die Zellkulturen verkaufen. Falls die Kulturfleisch-Branche wirklich skaliert, also wächst, könnten mehr Landwirte auf diese Kulturen umsteigen. Das alles wird sich vor allem auch am Markt regeln und vielleicht gelingt es ja auch, den ein oder anderen sehr innovativen Hof auf die Produktion von Fleisch aus Zellkultur umzustellen.
Bei dieser ganzen Diskussion geht mir aber häufig unter, dass der Arbeitsmarkt sich ja immer verändert und kein Nullsummenspiel ist. Schon heute werden viele Höfe nicht mehr von den Nachkommen übernommen oder sie werden aus den unterschiedlichsten Gründen aufgegeben. Menschen finden, wenn sie qualifiziert genug sind, andere Jobs. Es entstehen durch die neuen Ansätze ja auch neue Stellen und ganz neue Berufsbilder. Eine Angst davor, dass sich die Branche Landwirtschaft verändert, sollte uns aus meiner Sicht nicht davor abhalten, sie nachhaltiger zu gestalten.
Wäre nicht sogar eine Mischung aus ökologischer und zellulärer Landwirtschaft ein vielversprechendes Zukunftsszenario? Eine Kombination aus diesen beiden Wirtschaftsformen könnte die ressourcenintensive, industrielle Landwirtschaft und die mit ihr verbundenen negativen Auswirkungen auf die Umwelt verringern, oder?
Martin Reich: Zukunftsvisionen zu skizzieren ist aus unserer Sicht wichtig, um sich über gesellschaftliche Ziele auszutauschen und herauszufinden, wo wir dasselbe wollen und wo unterschiedliche Dinge. Die Ziele sollten getrennt von den Maßnahmen diskutiert werden, die zu diesen Zielen führen könnten.
In Debatten über Landwirtschaft erfährt man leider immer wieder, dass beides vermischt wird. Unsere öko-progressive Einstellung ist es, dass wir ein Ernährungssystem wollen, das alle Menschen fair und gesund versorgt und dabei einen viel geringeren Einfluss auf Öko- und Atmosphäre hat als heute. Die Mittel, die für die Umsetzung dieser Vision hilfreich sind, sollten möglichst evidenzbasiert und auf wissenschaftlichen Grundlagen gewählt werden. Gleichzeitig gibt es aber natürlich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dimensionen, die von politischen Entscheidungsträgern ebenfalls berücksichtig werden müssen. Ich fange die Antwort so umständlich an, weil sowohl ökologische Landwirtschaft als auch Fleisch aus Zellkultur Mittel sind und kein Ziel.
Aber ja: Sowohl ökologische Landwirtschaft als auch Bioreaktoren können zu dieser Vision beitragen.
Wie hoch könnte dieser Beitrag jeweils aussehen?
Martin Reich: Ob und wie viel, hängt von vielen Faktoren ab, darunter vor allem von den Standortbedingungen, wie zum Beispiel: Steht günstige Energie zur Verfügung? Wie ist der Boden beschaffen? Gibt es lokale Reststoffe, die genutzt werden können? Wie ist das Klima? Und vieles mehr. Zusätzlich gibt es soziokulturelle Eigenheiten der Bevölkerung, die überall anders sind: Welche Lebensmittel werden bevorzugt? Welche Unverträglichkeiten gibt es? Wie beeinflussen Tradition und Religion den Konsum? Und so weiter. Unser globales Ernährungssystem ist so heterogen, dass es eigentlich gar nicht genug Lösungen geben kann, die an jedem Standort in einer anderen Kombination für die nachhaltigste Ernährung sorgen.
Wie sollte die Politik sich in dieser Situation verhalten?
Martin Reich: Aus unserer Sicht ist es falsch, politisch vorzugeben, dass das eine oder andere Mittel (Ökolandbau oder auch Fleisch aus Zellkultur) vorrangig umgesetzt oder behindert werden soll. Stattdessen sollte die Politik Leitplanken setzen, die in Richtung Nachhaltigkeit führen, sodass sich die jeweils sinnvollsten Mittel im Wettbewerb miteinander und in Synergie durchsetzen.
Ein Nachteil des Ökolandbaus ist unter anderem sein erhöhter Flächenverbrauch, einer von Bioreaktoren die benötigte elektrische Energie. Weder das eine noch das andere wird als alleinige Lösung für Nachhaltigkeit sorgen. In Kombination aber womöglich schon.
Wie stehen Ihrer Meinung nach die Chancen, dass kultiviertes Fleisch irgendwann die Supermärkte erobert?
Martin Reich: Wann und ob das passieren wird, hängt vor allem davon ab, ob die Skalierung in den großen Maßstab gelingt, dass die Zulassungsprozeduren nicht zu aufwendig sind und sich ein erschwinglicher Preis realisieren lässt. Die Chancen, dass wir bald Produkte aus neuer Fermentation (also mit Mikroorganismen hergestellt) kaufen können, halte ich für sehr viel wahrscheinlicher.
Die letzten Jahre haben einfach gezeigt, dass es nicht so einfach ist, im großen Maßstab Fleisch aus Zellkultur herzustellen, wenn es sich um richtiges Gewebe handeln soll. Bisher sind kleinere Mengen und eher Hack als Filet möglich. Viele denken darüber nach, Hybridprodukte zu entwickeln, die mit pflanzlichem Protein „gestreckt” sind. Doch wir sind heutzutage auch ziemlich ungeduldig.
Was meinen sie damit?
Martin Reich: Auch, wenn ich in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht damit rechne, dass wir Filet aus Zellkultur im Supermarkt kaufen können: Diese Technologie steckt immer noch in den Kinderschuhen und solche Dinge dauern nun einmal. Ich fände es sehr schade und eine verpasste Chance, wenn die Enttäuschung darüber, dass die Verheißungen vieler Start-ups nicht eintreten, so groß wäre, dass niemand mehr etwas von der Technologie wissen will. Sie kann ein sehr wichtiger Baustein für ein zukünftiges, nachhaltiges Ernährungssystem sein.
Herr Kopton und Herr Reich, wir bedanken uns für das ausführliche Gespräch.
Weitere Informationen: oekoprog.org
Dieses Interview wurde geführt und zur Verfügung gestellt von der Journalistin Susanne van Veenendaal. Im Rahmen eines Buchprojekts über kultiviertes Fleisch, das den Titel „Die neue Fleischkultur – Warum Cultured Meat gut für Tier, Mensch und Umwelt sein kann“ tragen wird, an dem Susanne van Veenendaal gemeinsam mit Christoph Werner und Bastian Huber von cultured-meat.shop arbeitet, spricht sie mit verschiedenen deutschen Unternehmen, Forschern und Initiativen der Branche.