80 Milliarden Tiere – Fische noch nicht einmal mit eingerechnet – werden weltweit pro Jahr für den menschlichen Verzehr gezeugt, gemästet und geschlachtet. Das hält der Moraltheologe Martin M. Lintner sowohl aus umwelt- als auch aus tierethischer Sicht für höchst problematisch. Kultiviertes Fleisch sieht Lintner, der selbst auf einem Bergbauernhof in Südtirol aufgewachsen ist, als eine mögliche Alternative zur derzeitigen Fleischproduktion an. Für diese Ansicht hat er bereits viel Kritik einstecken müssen. Ihm wurde vorgeworfen, ihm würde an der Zukunft der alpinen Berglandwirtschaft nichts liegen. Außerdem hielt man ihm vor, er sei blauäugig und würde die Gefahren des „synthetischen Fleisches“ für Umwelt und Gesundheit verkennen.
Im Interview mit uns spricht er darüber, warum ihn ethische Fragen der Mensch-Tier-Beziehung generell interessieren, wie er das italienische Verbot von kultiviertem Fleisch bewertet und weshalb Debatten über Clean Meat bei Landwirten seiner Meinung nach Ängste hervorrufen. Außerdem schildert er, dass in der Theologie und in der theologischen Ethik die Themen der Tierethik und der Mensch-Tier-Beziehung mehr und mehr aufgegriffen und reflektiert werden.
Wer im Internet nach Ihrem Namen und dem Stichwort „Tier“ sucht, findet zahlreiche Einträge. So haben Sie zum Beispiel das Buch „Der Mensch und das liebe Vieh. Ethische Fragen im Umgang mit Tieren“ (Tyrolia 2017) geschrieben. Außerdem tauchen viele Beiträge auf, in denen Sie sich mit Tierethik beschäftigen. Warum und seit wann bewegt Sie dieses Thema?
Von Kindesbeinen an bin ich an Tieren interessiert. Sie faszinieren mich. Ich bin auf einem Südtiroler Bergbauernhof aufgewachsen und hatte deshalb von klein auf Umgang mit den Tieren auf dem Hof. Als sich für mich später die Frage nach dem Weiterstudium stellte, wollte ich zunächst Biologie und Verhaltensforschung studieren, dann habe ich mich jedoch für die Theologie entschieden, nachdem ich mich intensiv mit der Möglichkeit einer geistlichen Berufung auseinandergesetzt hatte. Das Interesse an den Tieren blieb aber weiterhin wach und es begannen mich die ethischen Fragen der Mensch-Tier-Beziehung zu beschäftigen. Dabei bin ich mehr und mehr zur Überzeugung gekommen, dass der hohe Konsum von tierlichen Produkten und die dafür nötige hohe Anzahl an Nutztieren, die gezeugt, gemästet und geschlachtet werden – wir töten jährlich über 80 Milliarden Tiere, Fische nicht einbegriffen –, sowohl aus umwelt- als auch aus tierethischer Sicht höchst problematisch sind.
Sie bezeichnen kultiviertes Fleisch als eine Alternative. Weshalb?
In Italien gab es Ende 2023 eine intensive Debatte über das kultivierte Fleisch, die dazu geführt hat, dass die italienische Regierung im Eilverfahren ein Gesetz erlassen hat, welches die Herstellung und den Verkauf von kultiviertem Fleisch verbietet. Auch italienische Bauernbünde haben zum Teil mit massiver Desinformation gegen – wie sie es genannt haben – „künstliches“ oder „synthetisches Fleisch“ argumentiert und durch Plakate nahegelegt, die dafür nötigen Bioreaktoren seien mit Atomreaktoren vergleichbar und das Laborfleisch müsse mit Totenschädeln als Gefahrgut gekennzeichnet werden.
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Umgekehrt wurden von der italienischen Landwirtschaft ausschließlich Postkartenmotive gezeigt, als ob die Kälber, Kühe und Schweine in Italien allesamt auf idyllischen Almwiesen leben würden. Sowohl die Landwirtschaft als auch die Herstellung von kultiviertem Fleisch wurden stark karikiert und vollkommen unrealistisch dargestellt. Ebenso hat man argumentiert, das Laborfleisch würde die hohe Qualität der italienischen Küche und die lokale Lebensmittelproduktion gefährden. Solche Argumente halte ich für hanebüchen. In diesem Kontext habe ich das grundsätzliche Verbot der Herstellung und des Verkaufs von kultiviertem Fleisch kritisiert und das kultivierte Fleisch als eine mögliche Alternative zu derzeitigen Fleischproduktion bezeichnet. Ich bin mir allerdings bewusst, dass es in diesem Bereich noch viel zu forschen gibt, bis kultiviertes Fleisch ganz realistisch gesehen eine konkrete Alternative des Fleischkonsums sein wird. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft den durchschnittlichen Fleischkonsum pro Kopf und Jahr signifikant senken muss.
Sie sind auf einem Bergbauernhof in Südtirol aufgewachsen. Seit 2009 lehren Sie Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen in Südtirol. Gerade aus Italien und auch dem Nachbarland Österreich kommt viel Ablehnung gegenüber Kulturfleisch. Wie nehmen Sie das wahr? Und müssen Sie als Fürsprecher viel Kritik einstecken?
Das Thema weckt bei Landwirten Ängste und bei manchen, so mein Eindruck, Schuldgefühle. Manche befürchten, dass kultiviertes Fleisch die herkömmliche Fleischproduktion verdrängen könnte und damit eine Gefahr sei für die Landwirtschaft inklusive Tiernutzung. Es wird dann beispielsweise argumentiert, dass Landwirtschaft im alpinen Bereich ab einer gewissen Höhe ohne Tierhaltung nicht möglich sei und dass die alpinen Hochweiden nicht geeignet seien für den Anbau beispielsweise für Getreide. Der Einwand ist berechtigt, aber ich halte diese Ängste dennoch für unbegründet, denn es wird immer Menschen geben, die lieber Fleisch vom Tier konsumieren als Fleischalternativen, sodass es diesen Markt immer geben wird.
Im Gespräch mit manchen Bauern gewinne ich auch den Eindruck, dass sie selbst Unbehagen haben mit dem derzeitigen System von Tiernutzung, in welches sie eingebunden sind, und dass sie die Debatte um zelluläre Landwirtschaft deshalb als eine grundsätzliche Kritik an den derzeitigen Nutztiersystemen – um es einmal ganz allgemein so zu nennen – wahrnehmen und damit auch als Kritik an ihnen selbst … und dass sie dann in den Abwehrmodus schalten. Für meine Argumentation, dass kultiviertes Fleisch eine mögliche Alternative zur derzeitigen Fleischproduktion sein kann, habe ich viel Kritik einstecken müssen. Die Kritik reichte vom Vorwurf, mir würde an der Zukunft der alpinen Berglandwirtschaft nichts liegen, bis hin zum Vorwurf, ich sei blauäugig und würde die Gefahren des „synthetischen Fleisches“ für Umwelt und Gesundheit verkennen. Ich möchte aber wiederholen, dass ich mich selbst nicht als Fürsprecher des kultivierten Fleisches verstehe, sondern dieses als mögliche Alternative sehe, wobei es noch viel Forschung braucht. Für unabdingbar halte ich aber eine signifikante Reduktion des Fleischkonsums, Laborfleisch hin oder her.
Liegt man falsch, wenn man behauptet, dass die Themen Tierethik und Kulturfleisch innerhalb der Kirchen nicht besonders präsent sind? Wie sind hier die Reaktionen auf Ihre Aussagen?
Mit dieser Einschätzung liegen Sie meines Erachtens ganz richtig. Das Thema Kulturfleisch ist meiner Wahrnehmung nach in den kirchlichen, zumal in den katholischen Diskussionen so gut wie nicht präsent und das Thema Tierethik insgesamt erst ansatzweise. Die Evangelische Kirche Deutschland hat 2019 einen wichtigen Text veröffentlicht: „Nutztier und Mitgeschöpf. Tierwohl, Ernährungsethik und Nachhaltigkeit aus evangelischer Sicht“ (EKD-Texte 133). In der Theologie und in der theologischen Ethik werden die Themen der Tierethik und der Mensch-Tier-Beziehung jedoch mehr und mehr aufgegriffen und reflektiert, sowohl in der evangelischen wie auch in der katholischen und besonders in der anglikanischen Theologie, die hier eine gewisse Vorreiterrolle spielt.
Insgesamt sind die Kirchen jedoch noch zurückhaltend. Das hat meines Erachtens auch damit zu tun, dass man befürchtet, in Konflikt mit den Landwirten zu kommen. Ein evangelischer Kollege sagte mir einmal: „Immer, wenn sich eine evangelische Landeskirche kritisch zum Thema Landwirtschaft und Tierwohl äußert, treten aus Protest viele Bauern aus der Kirche aus.“ Hier braucht es noch viel Dialog und Diskussion, um deutlich zu machen, dass die kritische Beleuchtung der Nutztierhaltung keine pauschale Kritik an allen Landwirten und Landwirtinnen darstellt, sondern vielmehr ein bestimmtes System von Landwirtschaft und Nutztierhaltung trifft, das viele Landwirte selbst kritisch sehen.
Was wünschen Sie sich in puncto Tierethik und Kulturfleisch von den Kirchen?
Von den Kirchen wünsche ich mir eine intensive Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema der Mensch-Tier-Beziehung, der Nutztierhaltung, des Konsums von tierlichen Produkten, und zwar in einer zweifachen Hinsicht: einmal im Kontext der Umweltethik beziehungsweise der globalen Erderwärmung – hier sind beispielsweise die Themen der Landnutzung zur Herstellung von Futtermitteln für die Nutztiere und die durch die Intensivtierhaltung verursachten Treibhausgas-Emissionen zu thematisieren –, sodann aus spezifisch tierethischer Perspektive. Wenn wir als Christinnen und Christen glauben, dass jedes Geschöpf – und damit auch jedes Tier – Mitgeschöpf ist, das heißt eine von Gott gewollte und geliebte Kreatur, die etwas von der schöpferischen Liebe und Güte Gottes erahnen lässt, dann können wir nicht wie bisher Tiere lediglich auf ihren Nutzen und ihre Funktion für uns Menschen reduzieren. Das betrifft Nutz- ebenso wie Haus- und Heimtiere. Papst Franziskus schreibt beispielsweise in der Umweltenzyklika „Laudato si’“ (2015) ganz klar, dass der Mensch nicht der letzte Zweck der nichtmenschlichen Geschöpfe ist (vgl. Nr. 83) und dass man auch bei den Tieren von einem „Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein“ sprechen muss (vgl. Nr. 69). Damit dies nicht nur Lippenbekenntnis bleiben, müssen wir die Mensch-Tier-Beziehung neu bedenken und ganz konkret unseren Umgang mit den Tieren verändern beziehungsweise verbessern. Das sehe ich als eine wichtige Aufgabe auch für die Kirchen an, hier proaktiv einen Beitrag zu leisten.
Dieses Interview wurde geführt und zur Verfügung gestellt von der Journalistin Susanne van Veenendaal. Im Rahmen eines Buchprojekts über kultiviertes Fleisch, das den Titel „Die neue Fleischkultur – Warum Cultured Meat gut für Tier, Mensch und Umwelt sein kann“ tragen wird, an dem Susanne van Veenendaal gemeinsam mit Christoph Werner und Bastian Huber von cultured-meat.shop arbeitet, spricht sie mit verschiedenen deutschen Unternehmen, Forschern und Initiativen der Branche.