Fleisch- und Fischalternativen

Im Interview mit ProVeg: „Das Problem ist nicht das Fleisch an sich, sondern seine Erzeugung, die industrielle Tierhaltung“

Tierleid, Klimawandel, Zivilisationskrankheiten und Welthunger haben etwas gemeinsam: Die Ursache für ihre Existenz liegt unter anderem in der industriellen Tiernutzung begründet. So fasst es zumindest die Organisation ProVeg International zusammen. ProVeg möchte eine Ernährungswende vorantreiben, die die genannten Probleme reduziert sowie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenziale hebt – und setzt hierbei nicht nur auf den weiteren Ausbau pflanzlicher, sondern auch auf die Förderung kultivierter Nahrungsmittel.

Jens Tuider, Internationaler Strategischer Leiter bei ProVeg, spricht im Interview mit uns darüber, warum kultiviertes Fleisch zu einer Systemtransformation beitragen kann. Er erläutert zudem, in welcher Weise sich ProVeg für die zelluläre Landwirtschaft einsetzt und welche vier Herausforderungen diese neue Technologie meistern muss, um am Markt erfolgreich sein zu können.

Herr Tuider, warum engagiert sich ProVeg für die zelluläre Landwirtschaft und für kultiviertes Fleisch?

Aus der Sicht von ProVeg geht es darum, ein diverses Alternativangebot zu schaffen – für eine Bevölkerung, die ihre Ernährung ändern will, aber mit Fleisch, Fisch und Käse als Mittelpunkt des Tellers aufgewachsen ist.

Die zelluläre Landwirtschaft stellt echte tierische Produkte her – jedoch ohne die emissionsintensive industrielle Tierhaltung. Sie produziert kultiviertes Fleisch und kultivierten Fisch ebenso wie pflanzenbasierte Alternativen, die mit kultiviertem Fett angereichert sind. Auch Milch, Käse und Eis aus Präzisionsfermentation eröffnen vielversprechende neue Möglichkeiten.

© Proveg International

ProVeg verfolgt eine Mission: ein globales Ernährungssystem, in dem pflanzliche und kultivierte Nahrungsmittel bis 2040 die Hälfte aller tierischen Produkte ersetzen. Hierfür setzen wir uns mittlerweile in zwölf Ländern auf vier Kontinenten ein.

Die Deutschen scheinen ohnehin immer weniger Fleisch zu essen. Laut jüngsten Berechnungen ist der Pro-Kopf-Verbrauch auf rund 52 Kilogramm pro Jahr gesunken. Pflanzliche Alternativen scheinen also ihren Dienst zu tun…

In Deutschland sinken Fleischverzehr und -produktion seit einigen Jahren tatsächlich deutlich. Immer mehr Menschen greifen bewusst zu nachhaltigeren Nahrungsmitteln. Diese Ernährungsweise nennt sich flexitarisch. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft beziffert den Anteil der Flexitarier an der Bevölkerung in Deutschland derzeit mit 46 Prozent. Zählen wir die Menschen hinzu, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, dann trägt über die Hälfte der Bevölkerung bereits aktiv zum Ernährungswandel bei. Das Problem ist dadurch aber noch nicht gelöst.

Warum nicht?

Ganz so einfach ist es leider nicht: Ernährung ist stark von Gewohnheiten bestimmt, die sich nicht mir nichts, dir nichts ändern. Flexitarier mögen in der Regel den Geschmack von Fleisch, Fisch und Käse. Einige von ihnen tun sich mit der Umstellung ihrer Ernährungsgewohnheiten schwer. Als Hilfestellung gibt es deshalb inzwischen vielfältige pflanzenbasierte Alternativen, die viele Verbraucher neugierig machen. Immer mehr Menschen finden Geschmack an den neuen Produkten und konsumieren sie regelmäßig.

Aber gerade an besonderen Tagen wie Weihnachten, Silvester oder dem runden Geburtstag gehört für einige Verbraucher Fleisch einfach dazu. Andere vermissen das saftige Mundgefühl, das tierisches Fett liefert. Deshalb unterstützt ProVeg neben einer pflanzenbetonten Ernährung die zelluläre Landwirtschaft als eine Säule der Systemtransformation.

© Firn – stock.adobe.com

Über welche Wege setzt sich ProVeg für die zelluläre Landwirtschaft und kultiviertes Fleisch ein?

ProVeg fördert die zelluläre Landwirtschaft durch vielfältige Aktivitäten: unter anderem über das ProVeg-Incubator-Programm, den New Food Hub, die New Food Conference und das CellAg Project.

Der ProVeg Incubator unterstützt zum Beispiel Start-ups, die mit zellulären Lösungen wirkungsvoll Lücken in der Technologie- und Wertschöpfungskette schließen können. Die Start-ups erhalten von ProVeg im Rahmen eines mehrmonatigen Programms Unterstützung durch Mentoren, Finanzierung und Wachstumsförderung.
Prominente Teilnehmer am ProVeg-Incubator-Programm sind zum Beispiel Cultimate Foods aus Deutschland, Cellular Agriculture aus Großbritannien und Clear Meat aus Indien. Cultimate Foods entwickelt kultiviertes Fett als Zutat für Fleischalternativen. Cellular Agriculture forscht zu Bioreaktoren, um kultivierte Proteine skalierbar zu machen. Clear Meat ist das erste Start-up, das in Indien an kultiviertem Fleisch arbeitet.

Weltweit informiert ProVeg außerdem Unternehmen, politische Entscheidungsträger und die Verbraucher gezielt über aktuelle Entwicklungen und neueste Erfolge der Branche. Die Ernährungsorganisation setzt dafür unter anderem auf Pressearbeit, Social-Media-Kommunikation und Vorträge. Mit dem New Food Hub bietet ProVeg auch eine zentrale Informationsplattform rund um alternative Proteine.

Besonderes Augenmerk legt unsere Ernährungsorganisation auf das Engagement von Regierungen und Staatenverbünden wie der Europäischen Union. Sie setzen die Rahmenbedingungen für die zelluläre Landwirtschaft. In den Ländern, in denen ProVeg aktiv ist, schließen sich unsere lokalen Politikexperten deshalb mit anderen Organisationen und Verbänden zusammen, um günstige Rahmenbedingungen für den Sektor zu schaffen, etwa eine unterstützende Regulierung und öffentliche Investitionen.

Auch die New Food Conference, die ProVeg seit 2019 in Deutschland ausrichtet, ist längst zu einem internationalen Branchentreff erwachsen. Der Fokus der Konferenz liegt auf dem einflussreichen europäischen Markt, der sich für Alternativprodukte in den letzten Jahren als besonders stabil erwiesen hat. Immerhin ist die zelluläre Landwirtschaft in den Niederlanden entstanden, deren Regierung sie auch national besonders fördert.

Um die Markteinführung von kultivierten und präzisionsfermentierten Produkten zu beschleunigen, konzentriert sich ProVeg auf die Einbindung von Landwirten und Herstellern, auf die Beratung von Rohstofflieferanten und großen Einzelhändlern und auf Verbraucherstudien, um zu ermitteln, wie die Einführung der neuen Produkte kommunikativ begleitet werden sollte.

Das CellAg Project bündelt all diese Aktivitäten themen- und länderübergreifend und gibt ihnen Zusammenhalt und eine gemeinsame strategische Ausrichtung.

© CellAg Deutschland e.V.

Was sind die größten Hürden und Probleme, die auf dem Weg zur zellulären Landwirtschaft überwunden werden müssen?

Um sich fest zu etablieren, benötigt die zelluläre Landwirtschaft vier Dinge: Skalierbarkeit, öffentlich geförderte, frei zugängliche Forschung, effizientere Zulassungsverfahren und ausreichendes Vertrauen der Verbraucher.

Skalierbarkeit bedeutet, dass die Produktion im industriellen Maßstab verlässlich möglich ist. Dafür müssen die Produkte preislich mit konventionellem Fleisch konkurrieren können. Der Markt wird wachsen. Wir stehen aber noch ganz am Anfang. Um Marktreife zu erlangen, braucht es technologische Lösungen, damit die Produkte am Ende bezahlbar sind. Hier ist die angewandte Forschung gefragt.

Die Ausgaben für diese Forschung müssen allerdings auch Einnahmen versprechen. Sonst sinkt das Forschungsinteresse bald. Deshalb braucht es öffentliche Investitionen, die den Technologie- und Markteinstieg beschleunigen. Einfach gesagt: Die Regierungen müssen die zelluläre Landwirtschaft unterstützen – auch finanziell.

Dann können wir mit schnellen Innovationen rechnen. Damit aber auch die Behörden mit der Genehmigung neuer Technologien und Produkte Schritt halten können, braucht es klare und schlüssige Zulassungsregeln, vor allem aber eine effizientere Umsetzung bestehender Verfahren bei gleichbleibend hohen Kriterien. In der Europäischen Union erteilt die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) Genehmigungen für neuartige Lebensmittel.

Und dann ist da noch die Sache mit der Akzeptanz in der Bevölkerung…

Ja, schließlich kaufen die Verbraucher nur Nahrungsmittel, denen sie vertrauen. In Deutschland ist das Vertrauen in kultivierte und präzisionsfermentierte Produkte trotz ihrer Neuartigkeit groß. Laut aktuellem Smart-Protein-Bericht ist das Vertrauen in die zelluläre Landwirtschaft gegenüber 2021 um neun Prozentpunkte gestiegen, mehr als in jedem anderen untersuchten Land. Aber auch hierzulande braucht es öffentliche Aufmerksamkeit für die Branche und eine gut verständliche Erläuterung der Herstellung. Das ist Wissenschaftskommunikation, welche die Forschung, Organisationen wie ProVeg und die Medien zusammen leisten.

Dies ist ein klassischer Fall von „Einer für alle, alle für einen“. Genau deshalb unterstützt ProVeg mit dem CellAg Project die Zusammenarbeit zwischen Forschung, Unternehmen, politischen Entscheidungsträgern, Regulierungsbehörden und den Medien.

© Smart Protein / ProVeg e.V.

Was müsste geschehen, damit die zelluläre Landwirtschaft beziehungsweise die Kulturfleisch-Branche auch in Deutschland besser durchstarten kann?

In erster Linie muss sich die öffentliche Hand stärker bei Investitionen und Genehmigungen engagieren. Damit die Branche in Deutschland wirklich durchstarten kann, braucht es aber auch die Hersteller und den Handel. Einige Akteure unterstützen die zelluläre Landwirtschaft bereits. Auf diesem Engagement lässt sich aufbauen.

Der Wurst- und Fleischwarenhersteller Rügenwalder Mühle hat vorgemacht, dass pflanzenbasierte Alternativprodukte eine lohnende Perspektive für die konventionelle Fleischwirtschaft sind. Er konnte 2021 zum ersten Mal mehr Umsatz mit pflanzenbasierten Alternativprodukten als mit tierischen erzielen. Sie sind so lohnenswert, dass der Lebensmittelkonzern Pfeifer & Langen die Rügenwalder Mühle kürzlich in die Holding The Nature’s Richness Group übernommen hat, die Aktivitäten rund um Fleisch- und Fischalternativen bündelt. Seit 2022 unterstützt die Rügenwalder Mühle auch RESPECTfarms, ein deutsch-niederländisches Projekt zur Erforschung von Geschäftsmodellen im Bereich zelluläre Landwirtschaft.

ProVeg ist aus dem Vegetarierbund Deutschland hervorgegangen und vertritt insbesondere vegetarisch-vegan lebende Menschen. Gibt es Kritik aus den eigenen Reihen daran, dass sich ProVeg für Kulturfleisch einsetzt? Wenn ja, wie wird damit umgegangen?

ProVeg ist heute eine internationale Ernährungsorganisation, die sich für die Transformation des globalen Ernährungssystems einsetzt. Ein von Gewohnheiten geprägtes Ernährungssystem lässt sich nur pragmatisch verändern, Schritt für Schritt und mit vielfältigen Ansätzen.

Dafür braucht es mehrere Säulen. Für diese Überzeugung steht ProVeg, und dahinter haben sich im Rahmen der Umbenennung auch die Mitglieder von ProVeg – in Deutschland und international – gestellt. Das Problem ist ja nicht das Fleisch an sich, sondern seine Erzeugung, die industrielle Tierhaltung.

respectfarms logo
© RESPECTfarms

Zelluläre Landwirtschaft und Kulturfleisch sind Begriffe, die in der konventionellen Landwirtschaft Ängste auslösen dürften. Wie sollte damit umgegangen werden?

ProVeg ist es sehr wichtig, dass bei Neuerungen, die unser Ernährungssystem entscheidend verändern können, die Landwirte mitgedacht werden. Es braucht Anreize, sodass die benötigten Rohstoffe für pflanzliche, fermentierte und kultivierte Alternativprodukte ausreichend, günstig und in hervorragender Qualität zur Verfügung stehen. Die Landwirte verdienen für ihr Engagement Wertschätzung – auch finanzielle. Und sie brauchen Planungssicherheit, um in die Umstellung ihrer Betriebe investieren zu können. Diese Planungssicherheit können vor allem staatliche Akteure gewährleisten, aber auch Abnahmezusagen der Produzenten sind hier essenziell.

Wie könnte diese Planungssicherheit für Landwirte geschaffen werden?

Denkbare Maßnahmen zur Unterstützung der Landwirte wären zum Beispiel Subventionen und Steuervergünstigungen für Betriebe, die zur Proteinwende beitragen. Betriebe, die von Tierhaltung und Futtermittelproduktion umstellen auf Feldfrüchte zum menschlichen Verzehr und zur Produktion von fermentierten und zellbasierten Alternativen, könnten beispielsweise finanzielle Unterstützung erfahren. Zudem könnte die Entwicklung von Geschäftsmodellen gefördert werden, die den Landwirten helfen, besser an dieser neuen, vielfältigeren Nahrungsmittelproduktion teil zu haben.

ProVeg setzt sich in seinem umfassenden Netzwerk außerdem bei Produzenten und Start-ups dafür ein, dass konkrete Zielsetzungen in konkrete Abnahmezusagen für Landwirte münden. Landwirte sind Geschäftsleute, und wenn es ein sinnvolles und vielleicht sogar attraktiveres Geschäftsmodell gibt, werden sie es sicher annehmen. Wir unterstützen diesen komplexen Prozess und hören zu, um die Sorgen der Landwirte zu verstehen und Lösungen zu finden.

Herr Tuider, wir bedanken uns für das Gespräch.

Weitere Informationen: proveg.com/de

Dieser Beitrag wurde zur Verfügung gestellt von der Journalistin und vegconomist-Gastautorin Susanne van Veenendaal. Im Rahmen ihres Buchprojekts über kultiviertes Fleisch mit dem Titel „Die neue Fleischkultur – Warum Cultured Meat gut für Tier, Mensch und Umwelt sein kann“, an dem Susanne van Veenendaal gemeinsam mit Christoph Werner und Bastian Huber von cultured-meat.shop arbeitet, spricht sie mit verschiedenen deutschen Unternehmen, Forschern und Initiativen der Branche.

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